Die Kraft der Berührung
Streicheln, umarmen, küssen: Wir brauchen Körperkontakt zum Leben.
Berühren lindert sogar Schmerzen.
Schon Ungeborene besitzen und nutzen einen ausgeprägten Tastsinn. Nach der Geburt stärkt sofortiger Körperkontakt die Beziehung zur Mutter und gibt wichtige Impulse zur biologischen und psychologischen Entwicklung. Fehlen solche Berührungen, entsteht enormer Stress, der Entwicklungsprozesse im Gehirn und soziale Kompetenzen nachhaltig beeinträchtigt. Vom Reiz zur Zellteilung Nüchtern betrachtet sind Berührungen eine Zusammenkunft verschiedener Reize.
Hautverformung, Wärmeempfinden sowie die Reaktion von Tasthaaren und Sinneszellen werden in elektrische Nervenimpulse übersetzt und veranlassen das Gehirn, bestimmte Moleküle zu produzieren. So werden aus mechanischen und biochemischen Eindrücken lebenswichtige Signale für Wachstum, Weiterentwicklung und Emotionen.
Fühlen Frauen besser?
Frauen gelten als Gefühlsmenschen, ihnen wird eine allgemein höhere Sensibilität zugesprochen. Die Zahl der Tastrezeptoren ist bei beiden Geschlechtern gleich, Frauen haben jedoch in der Regel kleinere Hände und dünnere Haut. Dadurch ist ihr Netzwerk aus Tastrezeptoren vergleichsweise dichter. Männer mit kleinen Fingern fühlen allerdings genauso gut. Tests lassen dennoch vermuten, dass Frauen Tastreize schneller verarbeiten und geringere Reizstärken wahrnehmen können. Sie erkennen beispielsweise Gegenstände durch alleiniges Ertasten schneller.
Nachgefragt
Saskia Fechte hat Prof. Martin Grunwald interviewt, er erforscht den Tastsinn und seine Bedeutung für unser Leben. In seinem Haptik-Labor an der Universität Leipzig berät er Produktdesigner zu Formen und Oberflächen sowie Therapeuten für psychisch bedingte Störungen der Körperwahrnehmung.
Sie bezeichnen körperliche Nähe als „Lebensmittel“. Wie ist das zu verstehen?
Jeder Säugetierorganismus ist existenziell von körperlichen Reizen abhängig, besonders in den ersten Lebensjahren. Fehlen entsprechende Berührungen, kann er sich nicht gesund entwickeln. Bei Tieren und Menschen führen fehlende Körperreize zu starken Entwicklungsstörungen oder sogar zum Tod. Insofern gelten Berührungen für mich als ein »Lebensmittel«, auf das wir nicht verzichten können.
Was passiert im Körper bei Berührungen, etwa bei einer Massage?
Angemessene Berührungsreize in sicherer Umgebung, zur richtigen Zeit, innerhalb einer vertrauensvollen Beziehung setzen eine körpereigene Apotheke frei. Dadurch ausgelöste biochemische Prozesse im Gehirn und im gesamten Körper verändern unseren physiologischen und psychologischen Status grundlegend. Neben einer allgemeinen Entspannungsreaktion verändern sich auch unsere Gedanken und Emotionen: Wir erleben weniger Angst und Stress, empfinden unsere Gedanken »klarer« und »geordneter«. Berührungsreize in einem stimmigen Umfeld fördern die zwischenmenschliche Beziehung. Wir fühlen uns den Menschen verbunden, mit denen wir auch positive körperliche Erfahrungen gemacht haben. Diese Effekte wirken in Partnerschaften, aber auch bei fremden Menschen.
Helfen Berührungen Ängste und Stress leichter zu ertragen?
Ja. Die Befunde sind eindeutig. Selbst Schmerzen lassen sich in einem gewissen Maß durch körperliche Nähe zu einem anderen Menschen leichter ertragen, sowohl auf körperlicher als auf seelischer Ebene. Wir können verletzte oder trauernde Personen besser mit körperlicher Zuwendung beruhigen als mit Vorträgen.
Woher kommt der Impuls, sich selbst zu berühren, etwa ins Gesicht zu fassen?
Dieser Mechanismus scheint quasi angeboren zu sein. Schon im Mutterleib berühren sich Föten im Gesicht, wenn die Mutter starke negative Emotionen empfindet oder raucht. Der Organismus scheint diese gesichtsbezogenen Selbstberührungen auszulösen, wenn wir uns in emotionalem Ungleichgewicht befinden. Weil in extremen Gefühlswelten unser psychisches System nicht gut funktioniert, helfen uns Selbstberührungen, wieder in eine emotionale Balance zu kommen.
Braucht jeder gleich viel Zuwendung?
Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Bedürfnis nach körperlichen Reizen. Schon Babys unterscheiden sich hier, man kann kein normales Maß definieren. Eltern müssen sehr genau beobachten, wie viele Körperberührungen in welcher Form dem Kind guttun.
PS: Lesen Sie auch „Natürliche Babypflege“.
Als Erwachsener scheint es mir wichtig, dass jeder seinen individuellen Berührungsbedarf – außerhalb sexueller Aktivitäten – erkennt und akzeptiert. Im nächsten Schritt könnte die zielgerichtete Suche nach Abhilfe folgen: professionelle Massagen, Kuschelparties oder der Besuch bei einem Berührer.