Der weite Weg zur Weltmedizin

Schulmedizin und Naturheilkunde: Zusammen könnten sie die perfekte Heilkunst ergeben. Davon ist der angesehene Arzt, Wissenschaftler und Bestsellerautor Professor Dr. Dietrich Grönemeyer überzeugt.

Im Interview mit Andrea Neuen spricht er über seine Vision von einer ganzheitlichen Weltmedizin.

 

„Ich glaube, dass man eine wissenschaftlich orientierte Medizin betreiben kann, ohne die traditionelle Heilkunst gering zu schätzen!“

 

Herr Professor Grönemeyer, in Ihrem neuen Buch plädieren Sie für eine fächer- und kulturübergreifende Weltmedizin. Wie weit ist unser Gesundheitssystem davon noch entfernt?

Ziemlich weit. Dabei steht außer Frage, dass unser Gesundheitswesen, rein fachärztlich betrachtet, höchsten Ansprüchen genügt. Es gibt bestens ausgerüstete Kliniken und Praxen, die Technik ist meist auf dem neuesten Stand. Herzspezialisten, Augenärzte, Radiologen, Internisten, Operateure, Psychologen und Psychiater – alle Fachdisziplinen sind hochqualifiziert. Aber allzu oft auch ausschließlich auf ihre jeweilige Disziplin konzentriert. Wer in einem Bereich exzellent sein will, kann nicht alles überblicken. Was uns fehlt, ist ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit des Zusammenwirkens, auch über die Grenzen der Schulmedizin hinaus. Das schulden wir unseren Patienten. In ihrem Interesse müssen wir uns zusammenraufen, Schulmediziner, Psychologen und naturheilkundliche Heiler.

 

Einige Ihrer Kollegen beäugen Sie kritisch, weil Sie sowohl auf High-Tech-Medizin als auch auf Naturheilkunde und überliefertes Heilwissen alter Kulturen setzen. Wie erklären Sie sich dieses Misstrauen?

Zum einen fehlt es tatsächlich nicht an Schwindlern, die im Bereich der Alternativ-Medizin ihr Unwesen treiben und Kranke mit esoterischem Humbug davon abhalten, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben. Auf der anderen Seite wird zu viel operiert und zu wenig die Psyche berücksichtigt. Doch das ist es nicht allein. Als Schulmediziner haben wir uns in den letzten 100 bis 150 Jahren ganz auf die Seite der Naturwissenschaft geschlagen. Die Erfolge, der Sieg über die Epidemien, die grandiosen Möglichkeiten der Transplantationschirurgie und anderes mehr, gaben uns recht. Sie haben die Schulmedizin in dem Glauben bestärkt, alles nach den Gesetzen der Naturwissenschaft richten zu können. Was sich nicht rational erklären ließ, galt als Unsinn. Von diesem Denken wieder abzurücken, braucht Zeit. Nur, was spricht dagegen, auf den Erfahrungsschatz der Naturheilkunde und anderer traditioneller Heilweisen zurückzugreifen und alternative Verfahren anzuwenden, wenn sie helfen?

 

Worin liegen wesentliche Stärken der Naturheilkunde?

Wir brauchen das Wissen der Naturheilkunde, der Fortschritt hat es nicht überflüssig gemacht. Im Gegenteil: Vieles, was er uns gebracht hat, wäre ohne naturheilkundliche Erfahrung und Beobachtung nicht denkbar – das Aspirin unter anderem, dessen Wirkstoff ursprünglich aus der Weidenrinde gewonnen wurde. Und wer wollte bestreiten, dass wir Schulmediziner hinsichtlich der menschlichen Zuwendung noch manches von den Vertretern der alternativen Medizin lernen können? Weil sie sich die Zeit nehmen, gehen die Patienten zu ihnen. Diese Bereitschaft, „sich einzulassen“, ist das Entscheidende. Sie heilt oft mehr als die verschriebenen Pillen. Sogar Placebos zeigen danach erstaunliche Wirkung, wie die Forschung nachgewiesen hat. Das alles heißt aber nicht, dass hier dem Handauflegen oder irgendwelcher Geisterbeschwörung das Wort geredet werden soll, obwohl auch das in manchen Kulturen seine Bedeutung hat. Für die Naturheilkunde gilt das Gleiche wie für die Schulmedizin: Das heilende Ergebnis der Verfahren muss nachweis- und wiederholbar sein, selbst wenn der Wirkungsmechanismus nicht immer erklärbar sein mag – noch nicht.

 

In Ihrem Buch erläutern Sie, wie vielfältig Heilpflanzen bei Erkrankungen helfen. Was halten Sie davon, dass speziell homöopathische Mittel so beliebt sind?

Ich bin da vorsichtig, obwohl ich das Prinzip der Homöopathie, Gleiches mit Gleichem zu behandeln, sehr interessant finde. Schon in den alten Kulturen wurde nach diesem Prinzip behandelt, brennender Muskelschmerz zum Beispiel mit heißem Wasser, Chili- oder Pfeffersalben. Ich bin Fan davon und nutze dieses Prinzip routinemäßig bei der Behandlung von Rückenschmerzen. Heiße Duschen, wärmende Wannenbäder, Wickel-, Pflaster- oder Salbenanwendungen. Ob Globuli wie Placebos wirken oder eine spezifische medizinische Wirkung haben, ist bis heute noch nicht wissenschaftlich bewiesen. Sie helfen nicht selten dem, der daran glaubt. Aber das immerhin. Problematisch wird es, wenn sie bei ernsten Erkrankungen anstatt ärztlich verordneter Medikamente eingenommen werden. Wer dazu rät, handelt unverantwortlich.

 

Sie sind rund um den Globus gereist, um unterschiedliche Heilmethoden zu studieren, waren unter anderem auf Hawaii, Sri Lanka und in Indien. Welches Erlebnis hat Sie am stärksten berührt?

Wo immer ich war, habe ich Überraschendes erlebt, Erfahrungen gemacht, die beeindruckten. Deshalb fällt es mir schwer, etwas zu nennen, das mich besonders berührte. War es die Begegnung mit einem Schamanen auf Hawaii, waren es meine Gespräche mit dem Dalai Lama? Ich kann es nicht sagen. Es war wohl alles zusammen, das Erlebnis einer Weltmedizin, die bei aller Vielgestaltigkeit doch auch sehr viele Ähnlichkeiten aufweist. Das gilt vor allem für das humanistische Grundverständnis, für die Überzeugung, dass dem Menschen nur zu helfen ist, wenn man ihn ganzheitlich betrachtet, als das Zusammenwirken von Körper, Seele und Geist. Auf dieser Grundlage haben die alten Ägypter, die Griechen und die Römer ebenso behandelt wie die Chinesen, die Inder und Tibeter oder die Medizinmänner der Indianer und die Hausärzte alter Schule.

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Sie haben viele alternative Behandlungsverfahren selbst ausprobiert, zum Beispiel die ayurvedische Panchakarma-Kur. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ein ausgesprochenes Glücksgefühl, eine völlig ungewohnte mentale und körperliche Leichtigkeit habe ich persönlich nach einer solchen Kur immer wieder mit Erstaunen erlebt. Der berühmte Stirnguss, bei dem erwärmtes Sesamöl langsam über den flach liegenden Kopf fließt, löst bei mir immer wieder meditative Zustände aus. Unverhofft schienen sich nach einer Panchakarma-Kur die Zweifel des Wissenschaftlers an dem oftmals noch Unerklärlichen der traditionellen indischen Heilkunst aufzulösen.

 

Wie sieht für Sie der Arzt der Zukunft aus?

Auf jeden Fall sollte er offen sein für alles, was heilt, egal, auf welche Kulturen und Epochen die Behandlungsmethoden zurückgehen mögen. Er sollte ein undogmatischer Netzwerker sein, der mit anderen Therapeuten und Fachdisziplinen solidarisch zusammenarbeitet. Und vor allem sollte er versuchen, die Menschen zu verstehen und ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren. „So wenig wie möglich, so viel wie gerade nötig“ sollte die medizinische Devise sein.

 

„Der Eid, den wir geschworen haben, verpflichtet uns, den Menschen zu helfen, nicht einem Lager zu dienen.“

 

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